Lieblingsort:
Shiloh – Vegetarian Cafe Bistro, Torstraße 159, 10115 Berlin

„Was diesen Ort so besonders macht: Man kann dort gut die Zeit verbringen. Es gibt sogar eine kleine hebräische Bibliothek. Für mich ist das Shiloh zu einer Art Familientreffpunkt geworden, wo ich Freunde sehen kann ohne mich vorher verabreden zu müssen. Das gibt es ja in Berlin nicht so oft.“

Alberto Nebiolo

Es war Zufall, dass er an jenem Tag den dunklen und verrauchten Laden auf der Urbanstraße betrat. Aber es hat sein Leben verändert, von Grund auf, sagt Alberto Nebiolo mit einer angenehmen ruhigen Stimme und schließt dabei die Augen, wie um sich diesen denkwürdigen Augenblick noch einmal zu vergegenwärtigen. Der Laden war eine Tierhandlung mit Reptilien. In einer Ecke aber saß in einem Käfig ein wunderschöner, grün-blau-gelb gefiederter Ara. „Sofort wusste ich: Das ist für mich“, sagt Alberto Nebiolo und öffnet die Augen und man weiß nicht genau, ob er damit den Vogel meint oder den Moment oder beides zusammen. Er kaufte den Papagei für viel Geld, 5000 Mark – und rettete ihm wahrscheinlich das Leben. Der Vogel hat von dem Zigaretten des Ladenbesitzers noch heute Atemprobleme. „Dann haben wir uns langsam, angefreundet, ganz langsam“, erinnert sich der gebürtige Italiener, „und dann, tja dann wurden es immer mehr.“ Seine Hände machen eine schicksalsergebene Geste in der Luft und zeigen auf sein Fahrrad, auf dem sechs Papageien thronen und neugierig die Köpfe nach allen Seiten recken. Es ist vielleicht ein bisschen so wie mit Tattoos, überlegt er. Die Überwindung für das erste ist groß, doch hat man erst mal eins, dann werden es ganz schnell immer mehr.
Und jetzt widmet Alberto Nebiolo neben seiner Arbeit als Koch im „Sale e Tabacchi“ jede freie Minute den Papageien. In seiner Wohnung hat er ein Schlafzimmer für sich – der Rest der Wohnung gehört inzwischen den Vögeln. Besuchen kann ihn dort niemand mehr, seine Papageien seien wahnsinnig eifersüchtig, erklärt er. Verreisen kann er auch kaum noch und wenn, dann nur kurz – denn sie sind außerdem ziemlich schnell beleidigt, wenn er sie vernachlässigt. Aber all das nimmt er in Kauf. Denn Alberto Nebiolo kann sich keinen besseren Ausgleich zu seinem Beruf vorstellen. In der Restaurantküche gehe es ja meistens ziemlich hektisch zu. Aber sobald er zu Hause ankommt, fühle er sich sofort geerdet. Und das verdankt er seinen Tieren. Das sei immer schon so gewesen: Er hatte eine tiefe Verbindung zu Tieren allgemein und zu Papageien ganz besonders. Das sei einfach da, in ihm drin.
„Papageien sind das beste, was es gibt, gegen Depressionen“, erklärt er. Und man merkt schnell, was er meint, wenn man ihn auf seiner Spazierfahrt begleitet. Die grellen, bunten Farben scheinen etwas mit den Menschen zu machen. Zwei Jungen rufen überrascht: „Oha – sind die echt?“ Viele zeigen auf sie, einige stellen sich kurzerhand in den Weg und machen schnell ein Foto. Es ist das Ungewohnte, das uns aus den täglichen Abläufen reißen kann und uns für einen Augenblick erhebt – und das zaubert tatsächlich den allermeisten Menschen ein Lächeln aufs Gesicht. Und wenn dann noch dazu ein gekrächztes „Hallo! Hallo! Papagei!“ an sie gerichtet wird, scheinen sie ganz beseelt. Ein bisschen ist es wie beim Papageno, der mit seinem grellen Federkostüm und seiner Unbedarftheit dem ernsten Ringen zwischen Nacht und Licht immer wieder die Schwere zu nehmen vermag. Obwohl er ja nichts ausrichten kann – es ist einzig und allein die Lebensfreude, die ansteckt. „Oder vielleicht ist es auch die Freiheit, die sie ja verkörpern“, versucht Alberto Nebiolo in Worte zu fassen, was die Tiere so anziehend macht.
Man sagt ja auch, Italiener seien ein bisschen wie Papageien, gibt er zu. „Und es stimmt schon: wir reden unheimlich gern, kleiden uns gerne auffällig.“ Er macht eine Pause. „Ich bin im Grunde auch ein schriller Vogel.“ Und er genießt es sichtlich, wenn die Menschen stehen bleiben und gucken. Und das machen eigentlich alle. Und natürlich hält er auch gerne hier und da ein Schwätzchen. Vielleicht ist es das, was er mit Ausgleich zur Arbeit meint: keine Freizeitplanung, sondern die freie Zeit verbringen, ganz offen für das, was kommt.
Manchmal schimpfen die Tierschützer. „Aber die wissen nicht, dass diese Papageien alle hier in Deutschland geboren sind. Die würden im Dschungel nicht überleben.“ Und außerdem, fügt Alberto Nebiolo hinzu, gebe ich mir wirklich die größte Mühe. Schließlich fährt er seine Papageien nicht nur auf der eigens gebauten Astkonstruktion vor dem Lenker mit seinem Fahrrad durch die frische Luft spazieren, so dass ihnen der Fahrtwind durchs Gefieder fährt, sein Ziel ist der Böcklerpark. Hier auf der versteckten Wiese zwischen Landwehrkanal und Wohnblock-Anlage, lässt er seine Tiere fliegen. Er bindet dem geduldig wartenden Ara eine weiße Schnur um das Fußgelenk. „Eigentlich fliegen Papageien nicht so gerne,“ erklärt er, „aber die Bewegung ist gut für sie.“ Dann erhebt sich der Vogel mit einem lauten Urwald-Kreischer in die Luft, sein sattes Blau, sein knalliges Rot und sein leuchtendes Gelb heben sich stark ab von den verwaschenen Fassadenfarben hinter der vertrockneten Wiese. Zwei Spaziergänger heben den Kopf und verfolgen mit dem Blick den Kreis, den der Papagei unter dem Kreuzberger Himmel zieht. Alberto Nebiolo rennt mit erhobenem Arm mit ihm mit und bringt ihn dann, sobald er gelandet ist, auf dem Arm wieder zum Fahrrad zurück. Leise flüstert er dem Papagei Worte zu, während er ihm über die Federn streichelt. Der große Vogel scheint ihm zuzustimmen. Unter heftigem Kopfnicken erwidert er, auch ganz leise: Hallo-Hallo-Hallo-Hallo.

Erschienen im Tagesspiegel am 23.10.2016


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