Die Uhr der fließenden Zeit

Alles fließt. Zumindest im Europa-Center rinnt seit 1982 die Zeit als neonfarbige Flüssigkeit über drei Stockwerke hinweg durch gläserne Rohre, sprudelt in große Reagenzbehälter, wird wieder nach oben gepumpt, aufgestaut und von Neuem weitergelenkt.
Die kleinen Kugeln zeigen die Minuten und die großen die Stunden an. Das Fließen und Sprudeln treibt ein großes Pendel an, das wiederum die öffnung der Kanäle steuert. Aber genau verstehen kann man das alles nicht. Und alle, die hier an dem Geländer im ersten Stock stehen bleiben und dem Rauschen, dem Auf- und Absteigen der Zeit zusehen, verkünden ihre eigene Theorie darüber, wie die Uhr funktioniert. Das ist nicht verwunderlich, denn die Erklärung auf dem angebrachten Schild ist kaum verständlich.
Als das Europa-Center 1965 als Einkaufscenter, Büro- und Wohnhaus eröffnet wurde, war dies für ganz West-Berlin ein Wirklichkeit gewordener Traum von Moderne. Der Mercedes-Stern drehte sich unaufhörlich über den Dächern der Stadt, und unter mit Glas
überdachten Innenhöfen konnte man zwischen Pflanzen auf kleinen Terrassen über Springbrunnen sitzen und Eisbecher mit Glitzer-Palme bestellen. Und das ist auch heute noch so.
Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen ist es voll auf den neon-blau beleuchteten Rolltreppen und den Gängen zwischen Irish Pub und Mövenpick. Die einen scheinen aus alter Gewohnheit hierherzukommen, die anderen sind wohl Berlin-Besucher. Und es gibt diejenigen, die schon als Kinder in West-Berlin vor der Uhr standen und staunten. Und da steht sie heute noch und zeigt jede nächste Stunde an, während um sie herum die Zeit stehen geblieben ist. Irgendwann zwischen den 1960er Jahren und 1980er Jahren. Oder wie es im Werbefilm auf der Internetseite auch heißt: »Mehr West-Berlin geht nicht.«

Erschienen in „111 Orte in Berlin,  die man gesehen haben muss – Band 2“, Emons Verlag, 2013, Köln

Adresse:
Europa-Center, Breitscheidplatz, 10789 Berlin-Charlottenburg


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