Die Betbank

Das große Holzkreuz über der grauen Tordurchfahrt ist schon ziemlich morsch. Aber es weist dort schon seit vielen Jahren den Weg zu der Kirche, die man von der Straße nicht sehen kann. Sogenannte Hinterhofkirchen oder Kirchen, die in die Häuserfassade eingereiht sind, gibt es viele in Berlin. Es sind katholische Gotteshäuser, die nach der Reformation lange Zeit verboten, später dann zwar geduldet, aber nicht gerne gesehen waren.
Aber das besondere an der St.-Clemens-Kirche in der Stresemannstraße liegt nicht nur in ihrer Geschichte, sondern vor allem auch im Hier und Jetzt. Wenn man an den Mülltonnen im ersten Hof vorbeigegangen ist, kommt man zur zweiten Tordurchfahrt. Hier, gegenüber der Kirchentür, steht eine Marienstatue in der Wand, ganz schlicht, im weißen Kleid und mit leicht geneigtem Kopf. Vor ihr leuchten zwei Kerzen, und unter dem mittleren Torbogen steht eine Betbank. Zum Sitzen und zum Knien. Zugig ist es hier, der Fahrradständer will auch noch unter den Torbogen, ein Fahrrad steht unter der Maria.
Die Menschen, die hierherkommen, sind meistens unterwegs. Sie haben Einkaufstüten dabei oder Rucksäcke auf. Sie bekreuzigen sich und setzen sich hin, um zu beten. Die Geräusche der Stadt kommen von allen Seiten, Müllabfuhr, Autos, Vögel und Gesprächsfetzen. Das scheint auf den ersten Blick überhaupt nicht zu passen. Doch dann merkt man immer mehr, dass es so genau richtig ist, mittendrin im Alltag. Ein Platz zum Innehalten, ein Ort für Spiritualität und Glauben – in einer Tordurchfahrt im Hinterhof.
Die Betbank steht auch für die Besonderheit der Kirche St. Clemens des Vinzentinerordens: Es ist eine Anbetungskirche, die rund um die Uhr geöffnet ist. Die Menschen können Tag und Nacht kommen, jeder, wann es ihm passt. Vielleicht kommen gar nicht alle, um zu beten. Auch die tiefe Innigkeit und Ruhe der Gläubigen, die man hier trifft, kann Kraft schenken.

Erschienen in „111 Orte in Berlin,  die man gesehen haben muss – Band 2“, Emons Verlag, 2013, Köln

Adresse:
Stresemannstraße 66, 10963 Berlin-Kreuzberg


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