Die Schiefe Bank

Unzählige Male ist man an ihr vorbeigefahren, ja sogar an ihr vorbeigelaufen, ohne sie zu bemerken. Aber wenn man sie erst einmal entdeckt hat, dann sieht man nur noch sie. Alles um sie herum ist streng geometrisch geordnet: Die Bodenpflasterung, die kleinen Ahorn-Bäumchen und der  Abstand zwischen den Laternen, die den Rand des Alt-Berliner Gendarmenmarktes markieren. Und wahrscheinlich ist dies auch der Grund, warum sich das Gehirn im ersten Moment so vehement dagegen wehrt, wahrzunehmen, was die Augen schon längst gesehen haben. Und wenn man die schiefe Bank, die einzige von unzähligen anderen Bänken, die entlang des weiten Platzes nebeneinander aufgereiht sind, dann doch etwas genauer untersucht, merkt man ziemlich schnell: Sie steht wirklich unübersehbar schief – und zwar nicht nur vorrübergehend. Die schwere Steinbank lässt sich nicht einen Zentimeter bewegen.
Und dann macht sich bald noch etwas bemerkbar: Freude. Man freut sich wie ein kleines Kind über diese stille Unregelmäßigkeit, und zwar ab jetzt immer, wenn man auch nur in die Nähe des Gendarmenmarktes kommt. Denn schon der Gedanke an sie lässt einen sofort weiter an den Geschichten rund um ihre Besonderheit spinnen. Alles dreht sich natürlich um die Frage: Wie kam es dazu, dass diese Bank wahrscheinlich für immer – denn ansonsten hätte das Berliner Ordnungsamt schließlich schon längst dafür gesorgt, dass die Bank wieder gerade gerückt würde – also wahrscheinlich für immer und ewig aus der Reihe tanzt?
Man stellt sich vor, wie die Bauarbeiter, die mit ihrem kleinen Hebe-Kran, die Bänke im immer gleichen Abstand in dem lauschigen kleinen Wäldchen ganz genau nach Anweisung platzierten. Und dann? Haben sie sich einen Scherz erlaubt? Hatten sie die ewige Geradlinigkeit und Formgenauigkeit hier auf dem Platz einfach satt? Oder war es so, dass sie es gar nicht bemerkten? Oder vielleicht zu spät – und der Kran schon wieder abtransportiert war und sie sich kurzerhand gedacht haben: Vielleicht merkt es ja niemand…
Die schlichte rötliche Steinbank wirft so viele ungeklärte Fragen auf, dass es die reinste Freude ist. Denn auf dem Weg durch Stadt reißen sie einen raus aus den geradlinigen Abläufen unseres Alltags. Und wie auch immer ihre wahre Geschichte ist – die schiefe Bank passt perfekt hierher, nach Berlin. Denn genau sie sind es, die diese Stadt so liebenswert und lebendig machen: die unerwarteten Fundstücke.

Kleiner Tipp: Wenn man mal ein bisschen aus der Reihe tanzen will, sollte man sich unbedingt ein Kissen mitbringen – die raue Sitzfläche ist ganz schön hart und unbequem.

Adresse:
Charlottenstraße Ecke Jägerstraße, 10117 Berlin-Mitte


Lieblingsort auf der Karte suchen: