Der S-Bahnhof Siemensstadt

Von der Bahnhofsuhr ist nur noch ein leerer rostiger Ring geblieben. Hohl und geisterhaft hängt er vom Dach herunter. Die Zeiger, die hier am Bahnhof Siemensstadt einmal die Minuten bis zum Schichtbeginn anzeigten, fehlen, ebenso das Ziffernblatt. Und in die Stille auf dem verlassenen Bahnsteig mischt sich ein Nachhall von denjenigen Geräuschen, die hier einmal den Ton angegeben haben – quietschende S-Bahn-Bremsen, das Zuknallen der Eisenbahntüren, die vielen eiligen Schritte zur Treppe, Werkssirenen für den Schichtbeginn. Die Siemens-Bahn spuckte vor den Siemens-Werkstoren tausende von Arbeitern aus ganz Berlin aus. In den Spitzenzeiten hielten S-Bahn-Züge mit bis zu zwölf Wagen im Zwei‑Minuten Takt.
Sieht man vom Bahnsteig hinüber zu den mächtigen Backsteingebäuden der Siemens-Werke, dominiert noch heute der große Uhrenturm im Kolossal-Stil der 1930er Jahre. Er lässt keine Zweifel. Hier regierte die gemessene Zeit. Schnell musste es gehen, als um 1900 das Kabelwerk als erstes Gebäude am Nonnendamm gebaut wurde. Es erhob es sich noch als grober, rechteckiger Klotz inmitten von Wiesen und Feldern. Dann folgte die Bahnverbindung. Und in wenigen Jahrzehnten stand hier ein Industriekomplex, den die Welt noch nicht gesehen hatte. Zigtausende von Arbeitern, Ingenieuren und Verwaltungsmenschen sorgten dafür, dass Kabel und Relais, Radios und Waschmaschinen, Lokomotiven und Dampfturbinen in alle Welt gingen. 1930 folgte auf den umliegenden Nonnenwiesen eine Wohnstadt für die Arbeiter, die Großsiedlung Siemensstadt.
Seit 30 Jahren fährt keine Bahn mehr auf der Strecke mit den vier Stationen, und eine Firma namens »Siemens Technopark« sucht neue Mieter für die überzähligen Büros im monumentalen Backsteinhaus. Auf dem verlassenen Bahnsteig lässt sich die Zeit nur noch an den kleinen Birken und dichten Brombeeren messen. Vielleicht kein Ort mehr zum Ankommen. Aber ein Ort zum Anhalten.

Erschienen in „111 Orte in Berlin,  die man gesehen haben muss“, Emons Verlag, 2011, Köln

Adresse:
Rohrdamm, Höhe Hausnummer 83, 13629 Berlin-Spandau


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